Interview

Die Angst schwingt immer mit…

Ein Interview von ANUAS mit Anna und Axel Petermann: Die beiden sind seit Dezember 2019 als Schirmherr/In und Botschafter/In für ANUAS e. V., Hilfsorganisation für Angehörige von Tötungsdelikten, Suiziden und Vermisstenfällen, tätig. Anlässlich des Gedenktages für vermisste Kinder am 25.05.2020 stellten die beiden sich den Fragen von Marion Waade.

ANUAS: Anna, du engagierst dich bei ANUAS. Was motiviert dich bei dieser Tätigkeit und welche Gedanken hast du als Mutter von drei Kindern am Tag der vermissten Kinder?

Ja, ich bin Mutter von drei Kindern. Obwohl sie inzwischen erwachsen sind und ihr eigenes Leben leben, habe ich die zwei Episoden besonders in Erinnerung, auch wenn diese viele Jahre zurückliegen.

Im Sommer:
Wir sind zu einem Familienausflug an die See mit unseren drei unternehmungslustigen, kontaktfreudigen Söhnen im Alter von 1, 4 und 5 Jahren gestartet. Es herrscht eine fröhliche, entspannte Stimmung: es wird gebadet, gebuddelt, gepicknickt. Plötzlich ist der Vierjährige verschwunden…

Im Herbst:
Einkaufsbummel im Shopping-Center mit zwei gelangweilten, aufgeschlossenen Söhnen. Neue Winterjacken werden gesucht, anprobiert. Plötzlich ist der Jüngste spurlos verschwunden, obwohl er gerade doch noch um mich herum war…

Zwei nicht außergewöhnliche Situationen, die Eltern immer wieder mit ihren Kindern erleben. Am Strand war es der kleine Hund, der neugierig die Dünen erkundete und den mein Vierjähriger streicheln wollte. Im Shopping-Center war es der runde Mantelständer, in dem sich der Jüngste so gut verstecken konnte und sich freute, wie alle im Laden ihn suchten…

Völlig normales kindliches Verhalten. Trotzdem führten diese Situationen dazu, dass ich sofort unruhig nach den verschwundenen Kindern suchte. Ich merkte, wie sich meine Anspannung ständig steigerte, denn aus Minuten wurde eine zähe Ewigkeit, aus meiner Unruhe wurde Panik.

Selbst nach Jahren, selbst noch nach gut zwei Jahrzehnten, sind diese Erlebnisse bei mir immer noch sehr präsent.

Axel und ich sind normalerweise ziemlich stressresistent, psychisch stabil und positiv denkende Menschen – normalerweise. Doch als die eigenen Kinder nicht auffindbar waren, traten bei mir sofort all die Informationen und Bilder von verschwundenen Kindern auf: Kinder, die aus Neugierde und Unternehmungsdrang die Welt alleine erkunden. Kinder, die einen Unfall erleiden und hilflos sind sowie Kinder, die Opfer eines Verbrechens wurden.

Hilflos machende Bilder, doch zum Glück gingen diese beiden „Vermissten“-Fälle glücklich aus; meine Kinder wurden gefunden.

Wie unermesslich groß der Schmerz der Eltern ist, deren Kinder nicht zurückkehrten, können andere Menschen sicherlich nur ansatzweise erahnen, solange sie die Erfahrung nie selbst gemacht haben – selbst bei stark ausgeprägter Empathie. Panik, Verzweiflung und dunkelste tiefste Depressionen prägen das Denken, die Gestaltung eines jeden Tages.

Hilfe und fachkompetente Unterstützung in dieser verzweifelten und ausweglosen Situation zu finden, ist ein weiteres Problem. Doch wer hilft in solchen Situationen?

ANUAS bietet meines Erachtens Eltern die größte Chance sowohl psychologische als auch fachkompetente Beratung in ihrer Hilflosigkeit zu erhalten. Auch wenn ein furchtbarer Schicksalsschlag dem Leben vermeintlich jeden Sinn genommen zu haben scheint, dann ist trotzdem ein winziger Lichtstrahl am Horizont zu finden. Bei dieser Suche kannst du. liebe Marion, als Gründerin und Vorsitzende des Vereines, gemeinsam mit deinem fabelhaften Team, so behilflich sein.

Häufig wird durch den sich vergrößernden Lichtstrahl das Leben für die verzweifelten und ratsuchenden Eltern und Angehörigen strukturierter und erträglicher. Sie sind nicht mehr alleine in ihrer Not und fühlen sich verstanden. Weil ich dazu beitragen möchte, dass diese Menschen wieder Sinn in ihrem Leben finden können, unterstütze ich ANUAS. Die Arbeit, die der Verein leistet, ist beeindruckend, effizient und positiv.

ANUAS: Liebe Anna, vielen Dank für das Gespräch.

ANUAS:  Axel, du hast viele Jahre in Bremen eine Mordkommission geleitet und als Fallanalytiker -als sogenannter Profiler – gearbeitet. In wie vielen Fälle von vermissten Kindern bist du tätig gewesen?

Die Fälle verschwundener Kinder, an deren Suche ich beteiligt war, habe ich nie gezählt; auf jeden Fall waren es schon einige. Die Gründe ihres Verschwindens waren unterschiedlich: Mal waren Sie weggelaufen, da sie sich zu Hause missverstanden fühlten, Angst vor schlechten Noten im Zeugnis hatten, Unfälle erlitten oder – tragischerweise – Opfer eines Verbrechens wurden. Doch zum Glück konnten die meisten verschwundenen Kinder wieder-gefunden werden bzw. kamen von alleine nach Hause. Doch die Angst, ihnen könnte tatsächlich etwas passiert sein, die schwingt immer mit.

ANUAS: Gibt es Schicksale von vermissten Kindern, die dich auch heute noch beschäftigen?

Ich habe tatsächlich noch einige Schicksale von Kindern vor Augen, denen ich nicht helfen konnte und sie leider tot auffand. Zwei dieser Fälle werde ich sicherlich nie in meinem Leben vergessen.

Fall 1:
Ein Junge war verschwunden, gerade einmal vier Jahre alt und blondgelockt. Gemeinsam mit seiner älteren Schwester und Kindern aus der Nachbarschaft hatte er vor dem Haus gespielt, so wie es Anfang der 1980-iger Jahre noch üblich war. Plötzlich vermissten die Spielkameraden den Jungen. Sie riefen nach ihm, suchten den Jungen in der Umgebung, doch er blieb verschwunden. Seine Eltern schalteten sich ein, befragten die Nachbarn, suchten im Haus und in den Grünanlagen, informierten die Polizei. Als auch die Nachforschungen der uniformierten Beamten ergebnislos verlief, wurden meine Kollegen und ich von der Mordkommission informiert. Zwar dachte in diesem Moment noch niemand an ein Tötungsdelikt, doch immer, wenn Kinder verschwinden, müssen polizeiliche Maßnahmen schnell und stringent eingeleitet werden. Wir befragten die Spielfreunde, doch neue Informationen erhielten auch wir nicht. Recherchen, großangelegte Suchmaßnahmen in der Nachbarschaft und der Einsatz eines Lautsprecherwagens blieben erfolglos: das Kind blieb verschwunden als hätte es sich in Luft aufgelöst. Als es nach einigen Tagen immer noch keine Spur von dem Kind gab, entschlossen wir uns, die Schwester des Jungen noch einmal zu befragen. Hatte sie uns wirklich die Wahrheit gesagt und wusste sie wirklich nicht, wo sich ihr kleiner Bruder aufhalten würde. Wir suchten die verzweifelten und verängstigten Eltern auf, baten mit dem Mädchen alleine im Kinderzimmer zu sprechen. Mit bangem Blick folgte das Kind, druckste herum, war unsicher. Plötzlich schossen ihr die Tränen in die Augen und schluchzend berichtete sie, dass ihr Bruder wohl tot sei. Sie hätten in der Sandkiste gespielt und eine tiefe Grube gegraben, in der ihr Bruder gestanden habe. Plötzlich sei eine Wand eingestürzt und die Sandmassen hätten ihren Bruder verschüttet. Sie sei weggelaufen, habe ihre Eltern aus Angst vor Strafe das tatsächliche Geschehen nicht beichten wollen.

Die Suche in der Sandkiste nach dem Jungen bestätigte die Beichte des Mädchens; wir fanden den Jungen von Sandmassen bedeckt. Er war erstickt.

Fall 2:
Es ist ein warmer Sommertag im Jahr 2001. Adelina hat gerade ihr Zeugnis bekommen und sie freut sich auf die Sommerferien. Adelina ist zehn Jahre alt und wohnt in Kattenturm, einen Stadtteil von Bremen. Unweit des Krankenhauses und auf der anderen Weserseite wie man hier sagt. Dort, wo Wohnblock an Wohnblock. Hier lebt auch ihr Großvater in einem elfgeschossigen Hochhaus und unweit einer Einkaufspassage Da ihre Mutter krank ist, muss sie dem alten Mann sein Essen bringen. Das ist schnell erledigt, denn der Weg ist kurz, lediglich 200 Meter. Adelina bleibt nur kurz bei ihrem Opa, will zurück zur kranken Mutter. Der Großvater begleitet sie noch zur Wohnungstür, sieht dass das Kind in den Fahrstuhl einsteigen und hört, wie die Kabine nach unten fährt.

Es ist 17.30 Uhr. Das ist das letzte Lebenszeichen von Adelina, denn was dann passiert, bleibt bis heute ein Rätsel. Adelina kommt zu Hause nicht an.

Es startete eine der bis dahin größte Suchaktionen der Bremer Polizei aus. Eine 40-köpfige Sonderkommission beginnt ihre Arbeit, doch dies führt zu keinem Ergebnis, Adelina kann nicht gefunden werden.  Drei Monate später die traurige Gewissheit: Adelina ist tot. Eine Frau sucht im etwa fünf Kilometer entfernten Pastorenwäldchen Pilze als sie auf einen blauen Plastiksack stößt, darin die sterblichen Überreste des Kindes. Der Täter hat Adelina bekleidet in den Beutel gesteckt, doch spricht die Fundsituation dafür, dass das Kind sexuell missbraucht wurde. Ich erstelle eine meiner ersten Fallanalysen, doch auch die führt leider nicht zum Täter. Eines steht jedoch fest: Viel Zeit kann er nicht gehabt haben, um Adelina zu entführen, sodass ich nicht an einen Fremden glauben mag, der das Kind missbrauchte und tötete. Und so bleibt das Verbrechen nach 20 Jahren immer noch ungesühnt.

ANUAS: Wie muss man sich als Betroffener deine Arbeit in Vermisstenfällen vorstellen? Können bei der Bearbeitung eines Falles Informationen verloren gehen, wenn das Ermittlerteam wechselt?

Wechseln die Ermittler in einem Verfahren, so können tatsächlich Informationen verloren gehen. Trotz akribischer Aktenführung gelangen nicht alle Details und Hinweise in die Akten, werden auch die Überlegungen zum Tatgeschehen, möglichen Tatgeschehen und vergleichbaren Fällen genau protokolliert. Für ein neues Ermittlerteam kann sich dieser Informationsverlust sicherlich negativ auswirken. Andererseits ist ein solcher Neubeginn aber auch die Chance für die Aufklärung des Geschehens oder eines Verbrechens: Verlassen eingefahrener Denkmodelle, frei für neue kreative Gedanken und Ideen.

Deshalb plädiere ich bei festgefahrenen Ermittlungen auch für das Drücken der „Reset-Taste“ und einem Neustart, denn die Anwendung des  Sprichwortes Neue Besen kehren gut, kann durchaus dazu führen, dass das neue Ermittlerteam erfolgsversprechende Ansätze und Informationen eruiert.

ANUAS: Wie viele Cold Cases gibt es bei der Suche nach vermissten Kindern – und wie viele Ermittler sind mit dieser Aufgabe beschäftigt?

Diese Frage vermag ich nicht zu beantworten, denn über Cold Cases und die eingesetzten Ermittler gibt es keine Statistik und keine Datei. Allerdings zeigt eine Veröffentlichung des Bundeskriminalamtes (BKA), dass am 01.03.2020 waren in der Datei “Vermisste/Unbekannte Tote” insgesamt rund 11.500 aktuelle Vermisstenfälle gespeichert waren, darunter ca. 9.200 Fälle Betroffener in Deutschland. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass in dieser Zahl auch Fälle enthalten sind, die sich innerhalb kürzester Zeit aufklären können, aber auch vermisste Personen aufgeführt sind, die bis zu 30 Jahren verschwunden sind.

Aus eigener Erfahrung weiß ich aber auch, dass das Thema “vermisste Kinder” in der deutschen Öffentlichkeit aus gutem Grund einen hohen Stellenwert besitzt. Allerdings wird durch die intensive Berichterstattung in den Medien bei aktuellen Einzelfällen ein hohes Gefährdungspotenzial für alle Kinder suggeriert, was manchmal leider auch zutrifft, in den meisten Fällen zum Glück jedoch nicht. Und so entsteht mitunter der Eindruck, dass die Anzahl nicht wieder aufgefundener Kinder bzw. nicht aufgeklärter Fälle dramatisch hoch sei und eine hohe Anzahl vermisster und nicht aufgefundener Kinder Opfer von pädokriminellen Tätern oder Menschenhändlern wurden. Zum Glück ist dies nicht der Fall, wie die nachfolgenden Zahlen belegen:

2018 wurden 12.791 vermisste Kinder registriert, doch 12.604 Fälle wurden aufgeklärt. Dies entspricht bereits einer Aufklärungsquote von 98,5 %. Auch von den in 2019 bearbeiteten 15.395 Fällen vermisster Kinder, konnten 15.072 Fälle geklärt werden, was eine Aufklärungsquote von zu 97,9 % entspricht.

Am 05.03.2020 waren in Deutschland seit dem frühesten registrierten Vermisstendatum am 03.03.1951 insgesamt 1.869 ungeklärte Fälle vermisster Kinder erfasst. Allerdings muss angemerkt werden, dass es sich bei mehr als die Hälfte dieser Kinder um unbegleitete Flüchtlinge, sogenannte Dauerausreißer oder Streuner handelt oder um Entziehungen durch einen der beiden Elternteile handelt.  Bei den anderen vermissten Kindern ist allerdings zu befürchten, dass sie Opfer eines Verbrechens oder eines Unglücksfalls wurden und nicht mehr am Leben sind.

All dies sind belastende Einzelschicksale, wo die vermissten Kinder und deren Angehörige das Anrecht haben, dass alles unternommen wird, um die Gründe des Verschwindens aufzuklären und mögliche Täter zu überführen.

ANUAS: Bedeutet der Tag der vermissten Kinder für Ermittler etwas Besonderes?

Wenn ich ehrlich sein soll, so ist dieser Tag noch nicht so sehr in meinem Bewusstsein verankert, auch wenn dieser Gedenktag seit fast zwanzig Jahren in Deutschland vornehmlich von Elterninitiativen ausgerichtet wird und ANUAS in seiner Arbeit auch einen diesbezüglichen Schwerpunkt gesetzt hat. Auch für mich als Ermittler beziehungsweise Fallanalytiker hat dieses Datum eher eine eher geringere Rolle gespielt, wenn es um die Suche nach vermissten Kindern ging. Als Vater von drei Kindern, kann mich sehr gut in die Lage von Eltern versetzen, für die es keinen schlimmeren Moment in ihrem Leben geben dürfte, als wenn ihr Kind von einer zur anderen Sekunde ohne die geringste Spur verschwindet und die Frage nicht beantwortet werden kann, ob es sich lediglich verlaufen hat, entführt oder gar getötet wurde.

ANUAS: Was kannst du Betroffenen raten, die ihr Kind vermissen?

Wenn ein Kind vermisst wird, so sollte sich schnell an die Polizei gewandt werden, dass von dort eine professionelle Suche organisiert werden kann und die Öffentlichkeit informiert wird.

Auch wenn bei Vermisstenfällen generell geklärt werden muss, ob die Kriterien für eine polizeiliche Suche erfüllt sind, so gilt diese Prüfung bei verschwundenen Kindern nicht. Hier genießt die Sorge um das Wohl und das Leben des Kindes die oberste Priorität.

Natürlich können und sollten Eltern und Angehörige diese Maßnahmen unterstützen, wenn sie in den eigenen vier Wänden nach ihrem Kind suchen, Freunde, Schulkameraden, Lehrer/innen und andere Personen befragen, die Auskunft geben können. Allerdings ist für mich der vertrauensvolle und beschützende Umgang mit dem eigenen Kind die beste Empfehlung, um solche traumatischen Einschnitte reduziert werden können, da sich die Kinder verstanden und angenommen fühlen und auf gar keinen Grund haben, nicht nach Hause zu kommen.

ANUAS: Was hältst du vom Handy-Informationssystem “Katwarn”? In Nachbarländern ist das Standard – könnte es uns auch in den ersten Stunden eines Vermisstenfalles helfen?

Natürlich könnte KATWARN die Polizei und andere Sicherheitsbehörden bei der Suche nach vermissten Kindern und der gezielten Verbreitung von Warnungen an die Bevölkerung unterstützen. Dies ist meines Wissens in Hessen bereits in einigen Fällen erfolgreich geschehen. Allerdings weiß ich auch,  dass diese  Neuerung jedoch in der Bevölkerung und in der Polizei umstritten ist, da viele Katwarn-Nutzer solche Vermisstenmeldungen einfach nur nerven, auch die Warnungen zum Beispiel vor falschen Polizisten. Sie haben die App nur deshalb heruntergeladen, da sie vor Unwettern oder anderen Gefahren wie einem Amoklauf, einem Terroranschlag oder großen Unfällen gewarnt werden wollen.                                                                                                                                                                               Ich sehe die Gefahr, dass eine zu extensive Nutzung dieser Warn-App dazu führen kann, dass die Meldungen einfach weggeklickt werden oder gar das Abonnement gekündigt wird. Wichtig ist, dass die Meldungen nur nach einer sorgfältigen Prüfung der Umstände und bei ganz eindeutig verschickt werden und nicht auf jeden Vermisstenfall angewendet werden.

ANUAS: Wie erklärst du deinen eigenen Kindern deinen Job? Mit deiner Frau Anna hast du ja drei Kinder.

Als meine Kinder noch klein waren, ist darüber zu Hause wenig gesprochen worden. Wichtig war für meine Frau und mich, dass sie ein kindgerechtes, möglichst sorgenfreies Leben führten und sich angenommen und verstanden fühlten.

Erst später habe ich ihnen erklärt, worin ich den Sinn und die Aufgabe meines Berufs sehe, nämlich das Recht von Opfern, Angehörigen und des Staates auf Aufklärung, der Ermittlung von Tätern, der Schutz des Einzelnen und der Gesellschaft vor Gefahren und Straftaten. Und diese Ansprüche habe ich noch heute an mich.

ANUAS: Bräuchten Vermisstenfälle mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit?                                        

Nicht nur vermisste Kinder und deren Angehörige haben das Anrecht auf stetige Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Das gilt generell für alle Opfer und deren Angehörige. Leider – so meine Wahrnehmung – genießen häufig viele Einzelschicksale nur im Moment der Taten eine öffentliche Anteilnahme. Dann lässt das Interesse nach und die Menschen sind alleine auf sich gestellt. Egal, ob es sich beispielsweise um ihren Anspruch auf Unterstützung bei den polizeilichen Ermittlungen oder bei Gericht, im Zivilverfahren wegen der Zahlung von Schmerzensgeldern geht oder der Anerkennung als Opfer einer Straftat nach dem Versorgungsrecht.

Ich wünsche wirklich jedem Menschen, tatsächlich von der Öffentlichkeit und der Administration – trotz gegenteiliger Bekundungen – im Stich gelassen und werden auf diese Weise erneut zum Opfer.  Das ist auch einer der Gründe, die meine Frau Anna und mich bewogen haben, als ehrenamtliche Botschafter/in und Schirmherr/in für die bundesweite Hilfsorganisation ANUAS für Angehörige von Mord-, Tötungs-, Suizid- und Vermisstenfällen zu fungieren. Wir möchten dazu beitragen, dass die Sorgen und Nöte dieser Menschen stärker in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt, Verbesserungen in der Umsetzung der Gesetze ermöglicht werden und diesen Menschen bei der Lösung ihrer mannigfaltigen Sorgen und Problemen geholfen wird.

ANUAS: Ist der von Fall Natascha Kampusch bei Vermisstenfällen so etwas wie das gute Beispiel?

Natürlich ist der Fall von Natascha Kampusch im deutschsprachigen Raum das Beispiel für einen gut ausgegangenen Vermisstenfall. Sie konnte ihrem Peiniger entkommen und hat die Entführung überlebt. Was alles mit ihr in der Zeit der Gefangenschaft passiert ist, verschweigt sie. Sicherlich aus gutem Grunde, denn es dient auch dem Schutz ihrer Privatsphäre, zumal eine strafrechtliche Verfolgung des Täters nach dessen Tod nicht mehr möglich war. Doch der glückliche Ausgang dieses Verbrechen gibt vielen verzweifelten Eltern Hoffnung, dass auch ihr verschwundenes Kind irgendwann wieder lebend aufgefunden wird und nach Hause zurückkehren kann. Für manche Mütter sicherlich ein letzter Strohhalm, an denen sie sich klammern, um sich nicht eingestehen müssen, dass ihr Kind tot ist.

ANUAS: Wir wissen, dass die häusliche Gewalt – auch gegenüber Kindern – leider stark in Familien vertreten ist, auch wenn diese Exzesse immer noch von der Gesellschaft negiert werden. Ist in Zeiten der Corona-Pandemie auch zu befürchten, dass die Zahl vermisster Kinder steigt?

Tatsächlich war zu Beginn der Corona-Maßnahmen die Sorge um das seelische und körperliche Wohl von Kindern in Familien groß. Kinderschutzorganisationen und verschiedene behördliche Einrichtungen äußerten die Befürchtung, dass Gewalt gegen Kinder in erheblichem Maße zunehmen würde, wenn die Familien zu Hause auf engstem Raum zusammenhocken würden und keine Möglichkeit bestünde, Kindertagesstätten oder Schulen zu besuchen. Doch zumindest sind in den ersten Wochen nach den verhängten Corona-Kontaktbeschränkungen – so die Süddeutsche Zeitung – etwa 15 Prozent weniger Gefährdungsmeldungen bei den bundesweit etwa 550 Jugendämtern eingegangen. Diese geringeren Zahlen könnten auf dem ersten Blick tatsächlich den Eindruck erwecken, dass häusliche Gewalt – sie muss sich im Übrigen nicht ausschließlich auf Kinder beziehen, sondern kann auch den Partner des Täters betreffen – zurückgegangen sei. Zu befürchten ist allerdings auch, dass diese Gewalt momentan nicht wahrgenommen wird, weil niemand mehr genau hinschauen kann, die Möglichkeiten der Kindeswohlkontrolle fehlen bzw. stark eingeschränkt sind.

Aber du hattest gefragt, ob nicht zu befürchten sei, dass neben ansteigender Gewalt auch die Zahl der vermissten Kinder steigen könnte, da diese vor häuslicher Gewalt flüchten würden. Ich kenne noch keine diesbezüglichen Zahlen des BKA, allerdings halte ich diese Gefahr für gegeben, wenn es Kindern an Ansprechpartnern und Zufluchtsorten fehlt.                                                                                                         Erste Hinweise für diese Annahme und die Zunahme häuslicher Gewalt, könnte die um mehr als 20 Prozent erhöhte Nachfrage bei Sorgentelefonen oder der Chatberatung von Jugendlichen sein. Auch eine Meldung der Bundespolizei, wonach bis Ende März 2020 mehr vermisste Kinder und Jugendliche als sonst in Zügen und Bahnhöfen aufgegriffen wurden, kann ein weiterer Hinweis sein.

ANUAS: Leider gehen nicht alle Vermisstenfälle glücklich aus. Welche Gefühle gehen in dir als Ermittler vor, wenn du die vermisste Person findet – leblos?                                                                      Ich habe leider mehrere solcher Situationen erlebt. Aber nicht tote Kinder aufgefunden, die vermisst waren, sondern auch Opfer von Gewalttaten, nach Unfällen, nach Suiziden. Meine Gefühle dabei vielfältig.  Ohnmacht? Traurigkeit? Verzweiflung? Trauer? Betroffenheit? Angst um die eigenen Kinder? Sicherlich von allem etwas. Vielleicht auch manchmal mit dem Gefühl gepaart, versagt zu haben, nicht die richtigen Entscheidungen getroffen zu haben. Jeder Fall jedoch immer belastend.

ANUAS: Welche, mitunter abstrusen, Methoden werden angewandt, um vermisste Kinder zu finden?

Wenn die gängigen und bekannten Such- und Fahndungsmaßnahmen der Polizei leider nicht zum Erfolg führten, melden sich immer wieder Menschen, die bei der Suche nach vermissten Kindern und Jugendlichen helfen und unterstützen wollen. Auch nach meiner Pensionierung werde ich immer wieder mit sehr abstrusen Hilfsangewohnten konfrontiert. Darunter Hellseher, Wünschelrutengänger, aber auch Personen, die über Medien Kontakt zu den toten Kindern aufnehmen konnten bzw. können, allerdings noch nicht den genauen Ort ihres Verstecks nennen können. Auch ein Angehöriger des Voodoo-Kultes wandte sich an mich, um mich bei der Suche nach der vermissten Adelina zu unterstützen. Sicherlich gutgemeinte Angebote, auf die ich nicht eingegangen bin, weil ich mir von diesen spirituellen Fähigkeiten keine seriöse Hilfe versprach.

ANUAS: Lieber Axel, vielen Dank für das Gespräch.

 

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